Der halbierte Bürgersteig

Mobilität Sie versprechen Freiheit und rauben sie uns doch. Autos sollen aus der Gesellschaft verschwinden. Aber wie? Appelle allein reichen nicht, es müssen neue Strukturen her

Wie viel trägt der Autoverkehr zur Umweltkrise bei? Sollte man ihn abschaffen oder drastisch reduzieren, könnte man es überhaupt? Das waren Leitfragen eines Kongresses über „Auto. Mobilität. Krise“ am vorigen Wochenende in Stuttgart, veranstaltet von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, die der Linkspartei nahe steht, in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern, Gewerkschaftern und Umweltaktivisten. Dieser Kongress zeigte, die Verkehrssprecher der Linken treten noch entschiedener gegen die Autogesellschaft auf als die Grünen. Sie begnügen sich nämlich nicht mit der Alternative, die das Elektroauto angeblich darstellt, und widerstreiten so den Autokonzerninteressen. Das Dilemma der Ökologie liegt ja darin, dass sie nicht nur ein physikalischer, chemischer, biologischer Sachverhalt ist, sondern auch ein Geflecht gegensätzlicher Interessen.

Sogar ein IG Metaller wie Hans-Jürgen Urban hat große Zweifel daran, dass das E-Auto die Lösung sei. Selbst wenn alle technischen Probleme gelöst werden könnten, die Logik der Produktion wäre ganz anders, diese müßte radikal umgebaut werden, man bräuchte auch andere Zulieferer als bisher; ob die CO2-Bilanz überhaupt durchgreifend besser wäre, ist umstritten, klar ist nur, dass der Marktdurchdringungsgrad in den nächsten 30 Jahren noch gering sein würde. So viel Aufwand für so wenig Ertrag? Da fragt man sich, ob das E-Auto aus sachlichen Gründen oder eben aus solchen des Interesses erforscht wird. Eigentlich liegt es auf der Hand, dass vor allem über die Reduzierung des Autoverkehrs nachgedacht werden müsste. Gewiss tun das auch Grünen. Täte man es aber ganz kompromisslos, also ohne zugleich noch vom E-Auto Wunderdinge zu erwarten, man würde gerade auf technische Probleme kaum stoßen. Viele Initiativen, die es bereits gibt, zeigen, dass man es erreichen könnte mit wenig Umorganisation, begleitet von gar nicht schwieriger politischer Kommunikation. Man müßte nicht erst die Städte abreißen und auch nicht die Trennung von Stadt und Land rückgängig machen.

80 Prozent für die Freizeit

Das Auto ist eine Art, die Mobilitätsfrage zu beantworten. Mobilität ist ganz einfach die Anzahl der Wege pro Person und Tag. Von dieser nützlichen Plattheit muss man ausgehen, statt sich gleich in ideologische Konfusionen wie „Mobilität ist Freiheit“ zu verstricken. Es hat weder mit Freiheit noch mit Zwang etwas zu tun, dass der Mensch seine ganze Geschichte hindurch bestimmte Wege täglich zurücklegt, besonders den zur Arbeit, wobei sich nur deren Länge verändert. Das Auto ist bestimmt nicht besonders frei, da seine Nutzung nicht so sehr individualistisch als konformistisch macht. Was unterscheidet denn einen Autofahrer vom andern? Und macht etwa die Arbeitszeit frei, die man braucht, um ein Auto überhaupt kaufen zu können? Eine Untersuchung in mehreren deutschen Großstädten ergab, dass mit einem Drittel aller Autofahrten Distanzen von unter drei Kilometern zurückgelegt werden. Andererseits dienen 80 Prozent aller Fahrten der Freizeit. Der Weg zur Arbeit kann also nicht das ganz große Problem sein, das erklären würde, weshalb zum Beispiel in Stuttgart auf knapp 600.000 Einwohner 324.000 Autos kommen.

Auf der andern Seite ist das ökologisch Notwendige klar. Susanne Böhler-Baedeker vom Wuppertal-Institut legt Zahlen vor: Ein Individuum lebte umweltverträglich, wenn es nicht mehr als zwei Tonnen CO2-Emission pro Jahr verursachte und davon 23 Prozent für den Verkehr (mehr fällt für jedermann das Wohnen ins Gewicht, Heizung und Beleuchtung); das würde 276 Litern Benzin entsprechen, mit denen man bei denkbarem halbiertem Verbrauch der heutigen Antriebssysteme immerhin noch 5.600 km pro Jahr zurücklegen könnte. Heute werden aber durchschnittlich 10.000 km zurückgelegt. Dieser Überhang ließe sich durch einen Ausbau des öffentlichen Personen-Nahverkehrs (ÖPNV) eliminieren. Denn hier ist der Verbrauch viel geringer, weil sich viele Personen dasselbe Fahrzeug teilen. Man hat es errechnet bei ­Zugrundelegung der wirklichen Kapazitätsauslastung solcher Fahrzeuge, es ist eine Tatsache. Sie bedeutet, dass man überlegen kann, wie man es erreicht, dass die Leute viel seltener Auto fahren. Zu erreichen wäre es nicht durch Appelle, sondern durch andere Strukturen, die das Verhalten anders bestimmen; durch ein anderes Verkehrsverbundsystem.


Die Zukunft liegt in der Vernetzung von ÖPNV, Fahrrad und Carsharing. Für heute wurde die Proportion Auto zu Fahrrad zu ÖPMV wie 50 zu 25 zu 25 errechnet, wünschenswert wäre 10 zu 50 zu 30. Die starke Reduktion der Autonutzung könnte eben durch Carsharing erreicht werden. Denn im Maß wie sich die Leute darauf einlassen, fangen sie an zu überlegen, für welche Wege sie ein Auto wirklich brauchen. Wenn Carsharing zur Regel wird, braucht man einen großen Pool von Autos aller Art, die Menge wäre aber viel kleiner als heute. Ein großer Mitarbeiterkreis würde benötigt. Es würde so funktionieren, dass man per Telefonruf ein Auto ordert und ebenso per Anruf mitteilt, wo man es am Ende stehen läßt; Mitarbeiter brächten und holten es. Im Grunde ein Taxisystem auf einer Metaebene. Dass es dann viele Arbeitsplätze gäbe, gehört zu den Vorteilen dieses Weges, schon weil sich heute die Frage stellt, was mit den Beschäftigten der Autoproduktion geschehen soll, wenn sie mehr als halbiert werden muss. Im übrigen ist ja auch ÖPNV arbeitsintensiv.

Der Weg wird bereits beschritten, die Auseinandersetzung um praktische Lösungen ist im Gange. Um die Vernetzung zu erreichen, also dass ein und dieselbe Person mal das Fahrrad, mal ÖPNV, mal Carsharing nutzt, müsste man noch die „empfundenen Zugangshürden“ beseitigen, so Wolfgang Hoepfner von ver.di Stuttgart. Das ist in Freiburg bereits gelungen, inden es dort eine „RegioMobilCard“ gibt, die für verschiedene Verkehrssysteme gleich gilt und die Abrechnung mit einem differenzierten Punktesystem bewältigt. In Stuttgart braucht man für jedes System einen anderen Zugang, das hält die Bürger ab. An diesem Punkt lohnt sich ein Blick auf die Interessen. Wenn Daimler „car2go“ anbietet, nimmt es sich zunächst wie ein weiteres Carsharing-System aus. Hier wird aber nur ein Fahrzeug angeboten, der Smart, und das ganze Projekt zielt ersichtlich auf die junge Generation ab, die laut Umfragen dabei ist, sich vom Auto abzuwenden. Man versucht also, Carsharing zur Einstiegsdroge zu machen, während es sonst als Ausstiegsdroge funktioniert. Es ist aber ohnehin klar, dass das nötige Verkehrsverbundsystem nicht von einem Unternehmen geschaffen werden kann: „Mobilität ist eine kommunale Aufgabe.“

Eisenbahn zum Verschrotten

In Europa jedenfalls wäre sie ohne weiteres lösbar. In den USA ist die Lage anders, auch dahin lohnt ein Seitenblick, wie ihn Heiner Monheim von der Uni Tier beitrug. Geschichtsbücher behaupten, Henry Ford habe die geniale Idee gehabt, ein ganz auf die Privatperson zugeschnittenes Auto anzubieten, mit dem es auf einmal möglich wurde, die Distanzen eines riesigen Raums individuell freiheitlich zu überbrücken. Die Wahrheit sieht ein wenig anders aus. Die USA hatten über das dichteste Eisenbahn- und Straßenbahnnetz der ganzen Welt verfügt, bevor dieses Netz von den Autoproduzenten zu großen Teilen vernichtet wurde. Sie kauften es nach Möglichkeit auf, nur um es zu verschrotten. In dem, was übrigblieb, waren die Privatpersonen noch „frei“ – hatten die Wahl zwischen Ford und Chrysler!

In den USA wurde dann auch die Autostadt erfunden, die sich durch Zersiedlung auszeichnet. Auch in Europa mussten Städte für den Autogebrauch ein wenig zerstört werden. In Deutschland hat sich nur Berlin dem ADAC-Begehren erfolgreich widersetzt, die Gehwege, die mit berechtigtem Pathos „Bürgersteige“ heißen, zu halbieren, damit die Autos mehr Raum haben. Und man muss immer neue Autostraßen bauen, woran übrigens auch 30 Prozent autofreie Haushalte aller Großstädte mitzahlen. Autos werden immer schneller, deshalb müssen dann auch die Straßen immerzu umgebaut werden. Wenn das Standardauto auf mindestens 180 Stundenkilometer hochgetrimmt ist, glaubt die Bahn nachziehen zu müssen und bietet mindestens 300 Stundenkilometer an.

Warum muss die Unvernunft aufrechterhalten werden? Doch nur, weil in den Autokonzernen Investitionen stecken, die, koste es was es wolle, zu amortisieren sind, und weil nach wie vor tolle Profite winken; wie viele Autos können in China, Indien und so weiter noch abgesetzt werden! Und weil die Beschäftigten um ihre Arbeitsplätze bangen. Es war verdienstvoll, dass man Gewerkschafter zur Tagung geladen hatte. Sie äußerten sich denn auch als Bremser des nötigen Umbaus. Diese Debatte muss geführt werden. Lösungen liegen aber gar nicht fern. Selbst Uwe Meinhardt, der sich besonders konservativ gab, ließ am Ende durchblicken, ein Modell wie das jetzt bei Daimler ausgehandelte würde seinen Widerstand beseitigen: dass man dort Beschäftigten Lohnfortzahlung bis 2017 garantiert hat, egal ob die Arbeit dann längst verlagert ist oder nicht. Der Egoismus der Konzernherren freilich könnte nur durch Wirtschaftsdemokratie überwunden werden.



Der Traum vom Fahren ist mindesten so alt wie der vom Fliegen und in der Umsetzung tatsächlich die weit größere kreative Leistung denn fürs Rad und seinen Einsatz als Mobilitäts- und Transportmittel gibt es in der Natur kein Vorbild. Dennoch wurde es um 4.000 vor Christus in mehreren Kulturen zugleich erfunden.


Der Antrieb für Wagen aller Art blieb ein Problem, das mit Varianten von Muskelkraft, mit Wind und später mit Dampf gelöst werden sollte. In ganz Europa versuchten Forscher, die Räder zum Laufen zu kriegen. Isaac Newton konzipierte Ende des 17. Jahrhunderts einen Dampfwagen. Den Druchbruch aber brachte erst zweihundert Jahre später der Verbrennungsmotor von Carl Benz, mit dem er seinen dreirädigen Motorwagen antrieb. Das erste Auto verpuffte auf 100 Kilometer zehn Liter des Leichtbenzins Ligroin.


Die erste Tankstelle der Welt war noch eine Apotheke. Heute verheizen deutsche PKWs jährlich rund 50 Milliarden Liter Benzin und Diesel. Das Auto als persönliches Transportmittel stellt damit den mit Abstand größten Verbraucher von Kraftstoffen dar. Der Güterverkehr auf den Straßen der Bundesrepublik verschlingt insgesamt nicht einmal halb so viel Kraftstoff. Auch Flugzeuge und Schiffahrt benötigen im Vergleich zum Straßenverkehr nur wenig Sprit, nämlich nur ein Fünftel so viel. Entsprechend gestaltet sich der Anteil an den Treibhausgasemissionen: Ein Fünftel aller CO2-Emissionen stammen aus dem Straßenverkehr und damit mehrheitlich aus den kurzen und längeren Fahrten mit dem Auto.


Ein Auto zu haben wurde in den Fünfzigern zum erklärten Zeichen des Wohlstands, 1961 setzte sich Deutschland an Position zwei in der Liste der Autonationen. Heute sind mehr als 40 Millionen Autos in Deutschland zugelassen. Damit ist die Pro-Kopf-Autoquote zwar weit niedriger als in den USA, Kanada und Japan, aber in der Europäischen Union absolute Spitze.


Der autofahrende Bundesbürger lässt sich diese umweltschädigende Mobilität auch gern was kosten: Rund 270 Euro im Monat gehen für die Karre drauf, das ist sogar mehr als für Bildung, Freizeit und Kultur, und fast genau so viel wie für den Betrieb des eigenen Körpers mit Nahrung. In einem Autohalterleben belaufen sich die Gesamtkosten damit auf 300.000 Euro. (zint)

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12:15 05.11.2010
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