Analyse Öffentlicher Personennahverkehr urbane Mobilität

Unentgeltliche Nutzung des Nahverkehrs in Tallinn ab 2013 – ein Modell für andere Städte?

Straßenbahn Tallinn Estland Hauptstadt ÖPNV
Zwei Tatra-Straßenbahnen in Tallinn (2008) - Foto: TGr_79 @ Flickr - CC BY-SA 2.0

wagte, was zuvor noch keine europäische Großstadt gewagt hat. In der estnischen Hauptstadt mit 416.434 Einwohnern (01.03.2012) ist ab 2013 der Öffentliche Personennahverkehr für die Einwohner kostenfrei nutzbar. So hatte die Bevölkerung von Tallinn in einer Volksabstimmung mit einer Mehrheit von 75,5 Prozent entschieden.

Natürlich ist die ÖPNV-Nutzung nicht vollständig kostenfrei. So fallen für den Fahrdienst, Kraftstoffe, Abschreibungen, Werkstatt und Instandhaltung, usw. natürlich Aufwände an. Diese werden nur nicht durch Fahrgelterlöse und Zuschüsse gedeckt, sondern vollständig von der Kommune, dem Staat / Land getragen. Die Bereitstellung eines kostenlosen ÖPNV erfordert somit eine Querfinanzierung aus anderen Quellen. Dies können eine Umschichtung des kommunalen Haushaltes, die Parkgebühren oder eine spezielle Steuer oder City-Maut sein. Für Hintergrundinformationen zur Umlagefinanzierung, fahrscheinlosem ÖPNV und Nulltarifen siehe “Welche Vor- und Nachteile hat ein kostenloser ÖPNV? Werden Autofahrer wirklich zur ÖPNV-Nutzung animiert?”

Straßenbahnnetz Tallinn 2016
Straßenbahnnetz der estnischen Hauptstadt Tallinn (Stand 1. September 2017) – Grafik: Micv92 @ Wikimedia CommonsCC BY-SA 4.0

In existieren vier Straßenbahnlinien mit einer Gesamtnetzlänge von 39 Kilometern. Hinzu kommen acht Oberleitungsbuslinien und 62 konventionelle Buslinien. Der Betrieb der elektrisch betriebenen Fahrzeuge obliegt der Aktiengesellschaft TTTK („Tallinna Trammi- ja Trollibussikoondis“), das innerstädtische Omnibusangebot wird zum Großteil von der Aktiengesellschaft TAK („Tallinna Autobussikoondis“) betrieben. Seit 1995 hat MRP Linna Liinid den Betrieb einiger Buslinien übernommen. Der Betriebstag dauert von 05:30 bis 00:00.

Trolleybus O-Bus in Tallinn Estland
Trolleybus in Tallinn, Estland – LHOON @ FlickrCC BY-SA 2.0

Schritte zu einem attraktiveren ÖPNV sind in und Gesamt-Estland dringend nötig:

Im Jahr teilte sich laut EPOMM der Verkehr in folgendermaßen auf (= Modal Split):

Modal Split Tallinn Estland im Jahr 2009
Modal Split in 2009; Anmerkungen: PT = Public Transit = ÖPNV, Car = Pkw, Bike = Fahrrad, Walk = zu Fuß

Von 2010 bis 2011 sank die Zahl der ÖPNV-Nutzer landesweit um acht Prozent, in der Hauptstadt um 13 Prozent. Fuhren 2001 noch 31 Prozent mit Bahn und Bus zur Arbeit, waren es 2011 nur noch 22 Prozent. Der Modal Split hat sich zugunsten des Pkw verschoben.

Das bisherige Fahrpreissystem

Vor Einführung des Nulltarifs existieren in Tallinn mehrere verschiedene Fahrkartentypen. Einzelfahrscheine konnten beim Fahrer, an Kiosken oder per SMS gekauft werden. Eine Einzelfahrt kostete für Einwohner Tallinns ein Euro, für Studenten, Rentner und Behinderte kostet das Ticket fünfzig Cent. Wird der Fahrschein beim Fahrer gelöst, wurden 1,60 Euro bzw. 0,8o Euro fällig.

Zeitkarten werden mit dem Personalausweis der estnischen Bevölkerung verknüpft, können also nicht von Ausländern erworben werden. Die meisten Einwohner Tallinns besitzen eine 30-Tage-Karte. Diese kostete für Einwohner 18,50 Euro, für Nicht-Einwohner Tallins 23 Euro und für alle anderen Personen ohne estnischen Personalausweis 27 Euro. Kinder unter sieben Jahren fuhren kostenlos.

Um Schwarzfahren zu bekämpfen, wurden Busse zwischen den Haltestellen von der Polizei angehalten und kontrolliert. Das erhöhte Beförderungsentgelt betug 40 Euro. Hat ein Este seinen Personalausweis vergessen, konnte die Polizei mit Hilfe der Sozialversicherungsnummer überprüfen, ob ein Fahrschein auf den Personalausweis aufgebucht wurde.

Erfahrungen mit dem Nulltarif in

Seit Januar 2013 ist die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel für Einwohner der estnischen Hauptstadt nicht mehr mit dem Kauf eines Fahrscheins verbunden. Die Smartcard TallinnCard gilt in Verbindung mit dem Personalausweis als Fahrschein. Touristen müssen für eine Einzelfahrt bei Nutzung des E-Tickets Ühiskaart einen Euro und bei Kauf des Fahrschein beim Fahrer zwei Euro bezahlen.

Im Zuge der Tarifumstellung wurde das Angebot (hier: Fahrplankilometer) zunächst um 9,6 % ausgeweitet. Am 19. Oktober 2015 wurde die Streckenverlängerung der Straßenbahnlinien 2 und 4 von Ülemiste um zwei Haltestellen bis Suur-Paala eröffnet. Am 1. September 2017 wurde mit der Wiedereröffnung der Strecke der Linie 2 von Balti jaam bis Kopli die Sanierung des Straßenbahnnetzes abgeschlossen. Am gleichen Tag wurde die Haltestelle Kanuti zur besseren Erschließung der Altstadt erstmals angefahren und die Verlängerung der Straßenbahnlinie 4 von Ülemiste bis Lennujaam (Flughafen) eingeweiht.

Mittelfristig soll eine weitere Neubaustrecke das Fährterminal erschließen, das dann zum Flughafen am anderen Ende durch eine neue Linie 5 angebunden werden soll. Die Fertigstellung dieser Linie könnte frühestens 2020 erfolgen. Im Rahmen dieser Baumaßnahme soll zudem eine zweite Strecke durch die Innenstadt entwickelt werden, um die Störungsanfälligkeit im Betrieb zu verringern.

Des Weiteren kam es zu einer Modernisierung des Wagenparks. Beim spanischen Straßenbahnersteller CAF wurden 20 neue Straßenbahnen vom Typ CAF Urbos AXL zum Stückpreis von 2,3 Millionen Euro bestellt und bis 2016 ausgeliefert. Sieben Tatra-Bahnen wurden mit Niederflur-Mittelteil nachgerüstet, acht weitere werden noch umgebaut (Stand Ende 2017).

CAF Urbos AXL Tallinn Tram Straßenbahn
Moderne Straßenbahn vom Typ CAF Urbos AXL in Tallinn – Foto: Dmitry G @ Wikimedia Commonspublic domain / gemeinfrei

Derzeit benötigt Tallinna Linnatranspordi AS 52 Straßenbahn zum Betrieb. Mit der geplanten Neubaustrecke zum Fährterminal steigt der Bedarf je nach Linienverlauf um elf bis 18 Fahrzeuge an. Im Rahmen einer Ausschreibung bestellt Tallinn daher acht neue Straßenbahnen zum Ersatz von Tatra-Fahrzeugen inkl. Option zum Kauf von bis zu zwanzig weiteren Straßenbahnen für die Hafenlinie. Die Kosten für die acht neuen Fahrzeuge sollen bei rund 19 Millionen Euro liegen (2,4 Millionen Euro / Fahrzeug).

Eine Studie der Königlich Technischen Hochschule Stockholm hat im Jahr 2014 die Auswirkungen der Tarifanpassung auf Angebotsperformance, Fahrgastnachfrage und Auswirkungen auf die Erreichbarkeitswerte einzelner Nutzergruppen empirisch untersucht. Die Untersuchung trennte zudem zwischen den Wirkungen des kostenfreien Angebots und der damit einhergehenden Angebotsverbesserung.

Kernergebnisse:

  • Fahrgastnachfrage +3 %, davon entfallen 1,2 Prozentpunkte auf die Tarifanpassung und 1,8 Prozentpunkte auf die Angebotsverbesserung
  • Personenkilometer: +2,5 %
  • Die Kapazität des öffentlichen Verkehrsangebots wurde um 9,6 % erhöht.
  • In Stadtvierteln mit einem höheren Anteil von Erwerbslosen und Älteren an der Bevölkerung sowie einem niedrigeren Motorisierungsgrad stieg die Nachfrage stärker.
  • Die durchschnittliche Wegelänge sank von 2,72 km auf 2,40 km (-11,8 %). Dies impliziert einen Wechsel von weichen Verkehrsmodi hin zu ÖPNV, d.h. vormalige  und Radfahrer nutzen nun verstärkt den ÖPNV. Hinzu kommen Fahrgäste, die vormals unregelmäßig mit Einzelfahrscheinen gefahren sind und nun das Angebot häufiger nutzen (induzierter Verkehr).
  • Die Durchschnittsgeschwindigkeit im Straßennetz blieb konstant, d.h. eine Reduktion des MIV kann nicht festgestellt werden.
  • Öffentliche Zuschüsse für den ÖPNV stiegen von 70 % auf 96 %. Die Fahrgeldeinnahmen sanken um etwa 12 Millionen Euro.
  • Einwohnerzahl stieg zwischen dem 01.01.2013 und dem 01.01.2014 um 10.069 (Verdreifachung zu 2012 – 2013 mit 3.686 Neuanmeldungen). Damit einhergehend erhält etwa 10 Millionen Euro zusätzliche Finanzzuweisungen von der estnischen Regierung.

Weitere detailliertere Informationen zu den Wirkungen und deren Ursachen finden Sie im Artikel “Erfahrungen mit dem Nulltarif in Tallinn: Nachfragesteigerung, Verkehrsverlagerung und die Bedeutung der Angebotsanpassung”.

Andere Städte mit fahrscheinlosem ÖPNV / Nulltarif

ist nicht die erste Stadt, die das Experiment “fahrscheinloser” ÖPNV wagt. Das Paradebeispiel war für über 17 Jahre die belgische Stadt Hasselt. Aber auch die brandenburgischen Städte Lübben und hatten den kostenlosen ÖPNV eingeführt.

Die flämische Stadt Hasselt mit 68.000 Einwohnern hatte von 1997 bis 2013 einen kostenlosen Personennahverkehr (siehe auch diesen sehr guten ZEIT-Artikel). Eine Änderung des ÖPNV war in den 1990er Jahren notwendig geworden, als der Motorisierte Individualverkehr (Autos und Motorräder) so stark anwuchs, dass ein dritter Umgehungsring gebaut werden musste. Der Bau des zweiten Ringes hatte nicht die erwünschte Verlagerungswirkung gehabt und konnte die Verkehrsmenge auch nicht absorbieren. Zu dieser Zeit beförderten acht Stadtbusse auf zwei Linien etwa 1.000 Fahrgäste am Tag.

Der neugewählte Bürgermeister Steve Stevaert führte 1997 den kostenlosen Nahverkehr in Hasselt ein. Die Kosten für die Kommune betrugen bei Einführung rund 967.000 Euro. Die Fahrgastzahl explodierte innerhalb eines Jahres von 360 000 Fahrgästen auf 1 498 088.

JahrFahrgästeProzentsatz
1996360 000100%
19971 498 088428%
19982 837 975810%
19992 840 924811%
20003 178 548908%
20013 706 6381059%
20023 640 2701040%
20033 895 8861113%
20044 259 0081217%
20054 257 4081216%
20064 614 8441319%

Zehn Jahre nach Einführung des kostenlosen ÖPNV wurden pro Tag etwa 12.600 Fahrgäste befördert. 2006 beförderten 46 Busse auf neun Linien und einem Shuttle-Service in die Innenstadt (insgesamt 2,2 Millionen Fahrplankilometer) 4,6 Millionen Fahrgäste.

Seit 01.07.1997 konnten Touristen und Einwohner die H-lijn Busse, die innerhalb des Stadtgebietes verkehren und ein H vor der Liniennummer tragen, kostenlos nutzen. Der Regionalverkehr (die sog. Roten Linien) konnten von den Einwohnern Hasselt kostenlos genutzt werden. “Fahrausweis” war der Personalausweis, Touristen und Fremde mussten den normalen Fahrpreis entrichten. Für die Fahrt mit einer “Blauen” Regionallinie musste immer ein Fahrschein erworben werden. Kinder unter 12 Jahren fahren immer kostenlos.

Querfinanzierung in Hasselt

Für die Finanzierung des kostenlosen ÖPNV wurden in Hasselt vor allem die Einnahmen aus der Parkraumbewirtschaftung herangezogen. Die erste Stunde kostet nun ein Euro, danach werden 10 Euro für den halben Tag fällig. Um das Parkraumangebot entsprechend zu verknappen, wurden 800 Parkplätze im Stadtgebiet rückgebaut und umgewidmet.

Im Jahr 2007 stiegen die Kosten für den kostenlosen ÖPNV auf etwa 3,453 Millionen Euro jährlich. Da viele Straßenbauprojekte mit ihren Folgekosten nicht mehr notwendig waren, konnten diese finanziellen Mittel in das Busangebot investiert werden.

Aufgrund von Haushaltsproblemen hat der Stadtrat 2013 entschieden, den kostenlosen ÖPNV wieder abzuschaffen. Kinder und Jugendliche bis zum 20. Lebensjahr sollen den ÖPNV weiterhin kostenfrei nutzen können, ältere Fahrgäste müssen in Zukunft einen Fahrschein für 0,60€ erwerben.

Ursache für die Einstellung des kostenlosen ÖPNV waren neben einer finanziellen Schieflage des Haushalts die gestiegenen Kosten des Busbetriebs. Die Verkehrsgesellschaft De Lijn, die viele Busnetze und Straßenbahnlinien im flämischen Teil Belgiens betreibt, erhöhte die Rechnung für die Stadt Hasselt von 1,8 Millionen Euro pro Jahr um eine Million auf 2,8 Millionen Euro. Dies war mit der Haushaltslage unvereinbar, sodass der Stadtrat zum Entschluss kam, dass die Fahrgäste einen Beitrag zum Busbetrieb leisten müssen.

Die Wirkung des kostenlose ÖPNV auf Hasselt

Das Fahrgastaufkommen des ÖPNV in Hasselt stieg von 360.000 Fahrgästen im Jahr 1996 auf 4 614 844 im Jahr 2006.

Auf den Bau der dritten Ringstraße konnte verzichtet werden. Durch den Verkehrsverlagerungseffekt des kostenlosen ÖPNV könnte der Ring zum fußgänger- und radfahrerfreundlichen “Grünen Boulevard” umgestaltet werden. Die komplette Innenstadt wurde verkehrsberuhigt, Einkaufsstraßen wurden autofrei, viele vierspurige Straßen wurden auf zwei Spuren rückgebaut (siehe auch Fahrbahnrückbau und Straßenraumoptimierung). Die Regelgeschwindigkeit wurde im gesamten Stadtgebiet auf 30 Stundenkilometer herabgesetzt. Die Innenstadt ist mittlerweile nahezu Pkw-frei.

Das Busangebot in Hasselt wurde mit der Einführung des kostenlosen ÖPNV und in den nachfolgenden Jahren massiv ausgeweitet. Statt zwei Linien gab es 2012 48. Die Zahl der Busse wurde von acht auf über 100 gesteigert. Es bleibt zu vermuten, dass die steigende ÖPNV-Nutzung nicht nur auf das kostenlose Angebot sondern auch auf die höhere Taktfrequenz und das dichtere Netz zurückzuführen ist. Durch die bessere Erschließung wurden zusätzliche Nutzergruppen gewonnen. (siehe auch “Was bringt Menschen dazu mit dem ÖPNV zu fahren?”).

Durch die höhere Aufenthaltsqualität kommen mittlerweile 30 Prozent mehr Besucher in die Stadt, die Einzelhandelsumsätze stiegen. Hasselts Bürgermeister Steve Stevaert wurde flämischer Verkehrsminister und Vize-Präsident.

Einen weiteren Schub für den ÖPNV in Hasselt dürfte das neuste Nahverkehrsprojekt im Raum Hasselt bringen: Am 23. September 2011 hat das flämische Parlament dem Bau einer 38 Kilometer langen Straßenbahntrasse zwischen Hasselt und der niederländischen Stadt Maastricht zugestimmt. Eine Zusammenfassung der Marktpotentialanalyse (englisch) ist hier zu finden, die vollständige Analyse ist nur auf niederländisch verfügbar. Die gesamte Projektbeschreibung ist hier zu finden (niederländisch).

Es bleibt abzuwarten, ob das verbesserte Netz auch nach Abschaffung der kostenlosen Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel im April 2013 die Fahrgastzahl halten können wird.

Kostenloser ÖPNV in Deutschland

Die Diskussion über die Einführung eines kostenlosen ÖPNV existiert bereits seit den siebziger Jahren. Die Einführung wird heutzutage noch aus sozialpolitischen und vor allem verkehrspolitischen Gründen gefordert. Insbesondere aus umweltpolitischer Sicht ist die Stärkung des ÖPNV ein wichtiger Baustein zur CO2-Reduktion.

In Deutschland hat die Stadt  (16.500 Einwohner) in den neunziger Jahren versucht, mit Hilfe eines kostenlosen ÖPNV die Autonutzung zu verringern. Zum Zeitpunkt der Einführung verkehrten in Templin vier Stadtbuslinien und mehrere Regionalbuslinien. Der Stadtkern wurde von etwa 17.000 Fahrzeuge täglich befahren.

Um die prognostizierten Fahrgastzahlsteigerungen bewältigen zu können, wurden Linien neu geplant, die Zahl der Haltestellen von 27 auf 42 erhöht und der Takt auf den Hauptästen auf 30 Minuten reduziert. Die Fahrzeug-km stiegen um 15% von 102.000 auf 117.000 Fahrzeug-km. Der Kostendeckunggrad lag vor Einführung des kostenlosen ÖPNV bei etwa 14 Prozent. Die jährlichen Kosten betrugen etwa 350.000 DM bei Fahrgelteinnahmen in Höhe von 50.000 DM. Die Kosten für die Stadt Templin stiegen durch die Einführung des kostenlosen ÖPNV von vorher 50.000 DM auf 177.000 DM pro Jahr. Zur Gegenfinanzierung wurde die Kurtaxe erhöht, Werbeflächen an den Haltestellen angeboten und die Einnahmen aus der Parkraumbewirtschaftung verwendet.

Anfangs schien sich ein Erfolg des Projekts einzustellen. Die Fahrgastzahlen stiegen von etwa 45.000 Fahrgästen im Jahr 1997 auf 512.000 im Jahr 2000. Seit 1997 hat sich die Fahrgastzahl fast verdreizehnfacht. Die Taktfolgezeiten wurden nochmals von 30 Minuten auf 20 reduziert, die Einnahmen des Verkehrsunternehmens verfünffachten sich. Aber auch der Pkw-Verkehr reduzierte sich spürbar. Etwa 25 Prozent der neu gewonnenen Fahrgäste fuhren vorher mit dem Pkw.

Die ursprünglich erhoffte Verkehrsverlagerung ist jedoch nicht eingetreten, da zu wenige Push-Faktoren wie ein eingeschränktes Parkraumangebot, Parkraumbewirtschaftung, Einfahrverbote oder Verkehrsberuhigung den kostenlosen ÖPNV flankierten. Problematisch war auch die geringe Stadtfläche der Stadt mit einem Durchmesser von etwa 5 Kilometern. Große Fahrgastzuwächse wurden vor allem zu Lasten des Fuß- und Radverkehrs erzielt. Der Großteil des ÖPNV-Fahrgastzuwachses setzt sich aus Jugendlichen zusammen. Auf die Frage, welche Verkehrsmittel statt des Busses nun weniger genutzt wird, gaben 35-50% an, nun weniger zu Fuß zu gehen. 30-40% verzichteten auf das Fahrrad und 10- 20% gaben an, dass sie Autofahrten substituieren würden. Dabei blieb unklar, ob sich dies auf den Fahrer oder den Beifahrer bezog. Auch die Länge der Wege und damit die Verkehrsleistung wurde nicht erwähnt 1.

Zum Ende hin betrugen die Kosten für den fahrscheinlosen ÖPNV etwas weniger als 100.000 Euro pro Jahr und wurden aus dem städtischen Haushalt getragen. Eine Abgabe zur Gegenfinanzierung fehlte. Mittlerweile fahren nur noch Touristen, die die Kurtaxe entrichtet haben, kostenlos.

Die Vor- und Nachteile eines kostenlosen Nahverkehrsangebots sowie die Effekte auf die Verkehrsverteilung habe ich hier genauer analysiert.

Ebenfalls in Brandenburg liegt die Stadt Lübben mit 14.000 Einwohnern. Diese wird durch drei Bundesstraßen mit erheblichem Verkehrsaufkommen durchquert. Im Jahr 1994 wurde eine Stadtbuslinie eingerichtet, die vom Landkreis Dahme-Spreewald betrieben und finanziert wurde. Die Taktzeit lag zwischen 60 bis 90 Minuten. Seit 1996 beteiligte sich die Stadt Lübben an der Finanzierung. Der Finanzierungsanteil der Stadt stieg weiter, nachdem sich der Landkreis aus der Finanzierung zurückzog. Die Fahrleistung sank von 51.500 km pro Jahr auf 23.532 km / Jahr. Im Rahmen der Diskussion, ob die Buslinie wieder eingestellt werden solle, wurde die Einführung des kostenlosen ÖPNV in Lübben beschlossen.

Dieser wurde Anfang des Jahres 1998 eingeführt, war aber aufgrund der hohen Taktzeiten weiterhin unattraktiv. Durch eine Taktverdichtung und einen neuen Linienast zur Reha-Klinik wurde das Angebot verbessert. Auf eine finanzielle Beteiligung der Bevölkerung durch eine spezielle Abgabe wurde verzichtet, um die Attraktivität des Projekts nicht zu gefährden.

Zum 01.01.2002 wurde der Nulltarif wieder abgeschafft. Durch die steigenden Fahrgastzahlen erhöhten sich die Kosten für die Stadt von Jahr zu Jahr und überschritten die einst vorgegebene Kostengrenze von 100 000 DM. Erwachsene mussten nun die moderaten Fahrpreise 0,50 € und Kinder 0,10 € entrichten. Die Stadt gibt einen jährlichen Zuschuss von rund 40000 Euro.

Mittlerweile ist das Stadtbusangebot Teil des Verkehrsverbunds Berlin-Brandenburg mit den entsprechenden Tarifen (1,20€ / Erwachsener, 0,80€ /Kind).

In Berlin möchte die Piratenpartei einen fahrscheinlosen Öffentlichen Personennahverkehr einführen. Dieser soll durch eine Steuer für alle Berliner und durch eine City-Tax für Touristen finanziert werden.

Aktualisierungen

Aktualisierung – 17.04.2013
Hasselt schafft den kostenlosen ÖPNV wieder ab

Aktualisierung – 14.02.
Artikel umstrukturiert und neue Informationen zu eingefügt.

  1. Storchmann, Karl H. (2001) : Nulltarife im öffentlichen Personennahverkehr – ein Paradigmenwechsel?, Wirtschaftsdienst, ISSN 0043-6275, Vol. 81, Iss. 11, pp. 651-657, https://hdl.handle.net/10419/40818, S. 655
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Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Fachgebiet Verkehrswesen und Verkehrsplanung an der Fakultät Raumplanung der Technischen Universität Dortmund.
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